FC St. Pauli: Eger von der Wende unter Schultz überzeugt
"Wenn nichts gelingen will, ist er immer besonders präsent"
Auf der kanarischen Insel Teneriffa lebt Marcel Eger seit einigen Jahren das Leben eines Farmers, Gärtners und Malers. Dass er zuvor über ein Jahrzehnt lang als Spezialist für kompromissloses Verteidigungsspiel im Profifußball aktiv gewesen ist, hat er dort nur selten erwähnt. Doch seit diesem Sommer ist auch in Egers aktueller Biografie wieder Platz für diesen Teil seiner persönlichen Geschichte.
Verantwortlich dafür ist die Beförderung von Timo Schultz zum Cheftrainer des FC St. Pauli. Sechs Spielzeiten haben sie gemeinsam beim Kiez-Klub verbracht. Haben als Fixpunkte im Konzept von Holger Stanislawski den Aufstieg in die 2. Bundesliga gefeiert. Dann die Rückkehr ins Fußball-Oberhaus mit dem ersten Derby-Triumph über den großen HSV nach beinahe 35 Jahren. Liga-Zwei.de hat mit dem Auswanderer telefonieren können.
Marcel Eger, nach 11 Pflichtspielen mit nur einem Sieg und dem Absturz auf den vorletzten Tabellenplatz nach zuletzt sogar vier Niederlagen hintereinander wächst die Gruppe derer, die befürchten: Der Schultz ist noch nicht reif für den Job. Der packt das nicht. Wie oft hat er Sie inzwischen angerufen und gesagt: ‚Egi, ich würde am liebsten mit Dir tauschen‘?
Marcel Eger: „Hat er selbstverständlich nicht getan und das wird er auch niemals tun. Dazu brennt Timo Schultz viel zu sehr für das Fußballspiel im Kiez, für diese Arbeit mit jungen Menschen. Für den gemeinsamen Erfolg beim FC St. Pauli.“
Dennoch: Ist er reif für die Aufgabe?
Eger: „Selbstverständlich! Timo ist 43 Jahre alt inzwischen und seit bald zehn Jahren als Coach, Trainer und Ausbilder aktiv. Bei Pauli hat die Nachwuchs- Förderung einen sehr hohen Stellenwert. Alles professionell und perfekt dort. Rückfrage: Wie lange hätte er denn diese Arbeit noch lernen sollen, um als reif genug zu gelten?“
Der große Unterschied zwischen seinem jetzigen und seinem bisherigen Aktionsfeld als Trainer ist der neue Stress, jetzt für die Existenz eines ganzen Vereins verantwortlich zu sein. Sie haben rund 150 Mal gemeinsam auf dem Spielfeld geschuftet bis die Fetzen flogen. Was passiert mit Timo Schultz, wenn einfach nichts funktionieren will?
Eger: „Genau dann ist Timo immer besonders präsent. Dann läuft sein Kopf rot an, verlassen seine geschwollenen Adern den Schutz des Trikotkragens und dann hat er jeden zusammengeschissen, der ihm in die Quere gekommen ist. ‚Schulle‘ war immer ein Kämpfer, ein Wadenbeißer mit flinken Füßen. Einer, der gierig und gallig Jagd auf den Ball gemacht hat. Er hat uns alle mitgerissen und vor allem niemals aufgegeben, bevor der Schiri das Match nicht beendet hat.“
Heute – mit Verlaub – scheißt er niemanden mehr zusammen. Jedenfalls öffentlich nicht…
Eger: „Natürlich nicht. Weil Timo jemand ist, der genau weiß, wie diese jungen Fußballer heute drauf sind. Das passt heute nicht mehr in die Zeit. Das hat er doch in all den Jahren im NLZ des Klubs gelernt und so seinen Weg als Trainer entwickelt. Timo spricht die Sprache der Jugend und kennt deren aktuellen Befindlichkeiten und Bedürfnisse. Er weiß, worauf es heute ankommt.“
Worauf kommt es Schultz denn an?
Eger: „Auf eine Gemeinschaft, auf ehrlichen Austausch. Darauf, dass jedes einzelne Mitglied der Gruppe das sichere Gefühl mit nach Hause nimmt, gebraucht zu werden. Das haben wir selber erlebt damals. Bei Stani. Der war ein Meister darin, alle mitzunehmen. Ressourcen zu wecken. Die Lust auf Leistung zu steigern. Ich glaube, es steckt eine ganze Menge von Stani in Timo.“
Zum Beispiel?
Eger: „Auch Timo ist ein Bauchmensch. Ich glaube nicht, dass er den vielen Statistiken und mathematischen Werten, die heute jeder Ecke des Spielfeldes ermittelt werden, sonderlich viel Bedeutung beimisst. Timo verzeiht jedem Spieler seine Fehler, so lange sie begangen werden, wenn mutig offensiv agiert wird. Wenn spielerische Lösungen das Ziel sind.“
Was mag Timo Schultz nicht?
Eger: „Fußball ohne spielerische Substanz erklärt er zum Tabu. Fußball, der auf Nummer Sicher angelegt ist. Fußball, in dem nur nach vorne gebolzt wird.“
Kann aber ein Mittel sein, um wenigstens hier und da mal einen Punkt zu holen…
Eger: „Doch so was zuzulassen, zahlt sich auf lange Sicht nicht aus. Die Ansprüche, die Timo an den Fußball und das Spiel seiner Mannschaft stellt, sind mit dem Wert der Nachhaltigkeit angelegt. Ich bin glücklich, dass die Klubspitze das jetzt öffentlich klargestellt hat.“
Ist jetzt sein Job gerettet oder hat er jetzt einfach nur noch einmal Zeit gewonnen?
Eger: „Beides. Denn bei all dem Druck ist auffällig, dass weiterhin ein großes Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit existiert. Ich bin mir sicher, dass die Pauli-Entscheider in den Büros im Stadion am Millerntor erkannt haben, dass Timo trotz des enttäuschenden ersten Saisondrittels niemals seine Mannschaft verloren hat. In dieser Angelegenheit hat der Klub in der vorigen Spielzeit schon frühzeitig das genaue Gegenteil erlebt. Und damit eine Art Scharmützel zwischen Mannschaft und Trainer dauerhaft ertragen müssen.“
Warum glauben Sie, wird Timo Schultz die Wende hinbekommen?
Eger: „Weil ich ‚Schulle‘ als einen Kollegen erlebt habe, der Strömungen innerhalb der Gruppe gut aufspüren kann. Ihm ist es wichtig, Irritationen aufzuklären. Das gelingt nicht immer unmittelbar auf dem Rasen. Timo sucht dann eben weitere Gespräche in der Kabine oder auch beim Mittagstisch.
Häufig braucht es auch Mannschaftsabende. Oder ein gezieltes Team-Building. Das hat er dann organisiert. Timo war unser Vertrauensmann und nicht zufällig Kassenwart des Teams. Ihm war schon immer wichtig, dass sich im Betriebsklima keine Störungen festsetzen können.“
Was würde im März passieren, wenn der Kiez-Klub dann immer noch Vorletzter ist?
Eger: „Ich bin überzeugt, dass St. Pauli mit ihm als Trainer bis dahin genügend Erfolg haben wird. Timo wird die jungen Spieler stärker machen, eine stabile selbstbewusst aufspielende Mannschaft formen und dabei fürs Erste genügend Punkte für den Verbleib in der 2. Bundesliga sammeln. Timo Schultz schafft das. Denn am Millerntor mögen sie ihn doch alle: Die Verantwortlichen, die Spieler und die vielen, vielen Pauli-Fans. So viel Zuspruch verschafft Timo Energien und Kraft.“
Werden Sie das Match gegen Erzgebirge Aue auf Teneriffa verfolgen können?
Eger: „Bin dabei. Als Timo den Job bekommen hat, habe ich ihn sofort angerufen, ihm gesagt, wie sehr ich mich für ihn freue. Und dass ich ihm für jedes Spiel die Daumen drücke. So habe ich mir sofort eine neue Satellitenschüssel beschafft. Denn wie sonst könnte ich ihm mein Feedback geben, wenn er mich anruft?“
Oder Liga-Zwei.de – deshalb besten Dank für das Gespräch, Marcel Eger.