Best of: Chapeau
Vor wem wir den Hut zogen
„Ich ziehe meinen Hut und sage: Champs Elysée.“ – Diese berühmten Worte von Karl-Heinz Rummenigge mögen uns im Hinterkopf herumgespukt haben, als wir uns im Sommer 2019 eine neue Möglichkeit überlegten, das vielerorts praktizierte Modell vom „Mann des Spieltags“ etwas anders aufzuziehen.
Keine schnöde Abstimmung, kein bloßer Blick auf die Zahlen sollte es sein. Euch, unseren Lesern, wollten wir einen echten Mehrwert bieten und auch erklären, wie und warum unser jeweiliger Auserwählter denn nun in dieser Woche, aber auch sonst, eine besondere Leistung hatte erbringen können. Dazu holte sich unser Autor die unterschiedlichsten Experten ins Boot.
Nach Duellen mit Klos ist ein Physio nötig
Den Anfang machte Christian Conteh, der am 1. Spieltag der letzten Saison so plötzlich den Turbo anwarf, dass es seinen Förderer aus der St. Pauli-U23 Joachim Philipkowski zu Hause aus dem Sessel aufspringen ließ.
Besonders geehrt fühlen durfte sich Fabian Klos, der es ja inzwischen endlich im Herbst seiner Karriere in die Bundesliga geschafft hat. Am 7. Spieltag der Bielefelder Aufstiegssaison hatte der Angreifer gerade einen Doppelpack gegen Wehen Wiesbaden geschnürt.
Tim Kister, der als Innverteidiger viele Schlachten gegen Klos geschlagen hat, konnte sich gut in seine geschundenen Kollegen beim SVWW hineinversetzen. „Ein Match gegen Klos ist Schwerstarbeit. Er steckt viel ein, teilt aber auch tüchtig aus. Danach muss ich immer zur Regeneration bei unseren Physios“ beschrieb der Abwehrrecke seine Erfahrungen aus den harten Duellen mit dem dabei immer fairen Brecher.
Karibik-Feeling am Wildpark
Nur eine Woche später war es ein anderer Angriffs-Routinier, Marco Grüttner, vor dem wir die Kopfbedeckung lüfteten. Sein Trainer aus Ulmer Tagen und jetzige Sportdirektor Ralf Becker beschrieb uns die Tugenden des Jahn-Kapitäns, der im Sommer selbstbestimmt dem Profi-Fußball den Rücken kehrte. „Mit seiner Torgefahr bewegt sich Grüttner im Kreis der besten Stürmer der 2.Bundesliga. Was den Gesamteinfluss auf ein Team betrifft, so ist er sogar der Allerbeste“, sparte Becker nicht mit Lob.
Und damit keiner denkt, wir hätten hier nur die Offensivkünstler ins Rampenlicht gerückt: Daniel Gordon, jüngst nach langem Zaudern vom KSC doch wieder mit einem Vertrag ausgestattet, war für uns der Akteur des 11. Spieltags 2019/20. Sein alter Weggefährte Dirk Orlishausen, der aus dem Karlsruher Kasten das Treiben seines Vordermanns stets genau beobachten konnte, gewährte auch Einblick in den Charakter des Routiniers. „In der Persönlichkeit von Daniel Gordon steckt viel Lebensfreude, das Laissez-Faire der Karibik, viel Ulk und Spaß sowie dann und wann auch schon mal ein wenig Bruder Leichtfuß. Und mit seinem rechten Fuß spielt er den besten Außenrist der Liga.“
Pagelsdorf und Votava fachsimpeln
Das „Chapeau 2019“ verdiente sich dann kein Spieler, sondern ein Trainer. Uwe Neuhaus hatte mit Arminia Bielefeld einen sagenhaften Punkteschnitt erzielt und stieg ja am Ende auch hochverdient auf. Sein Laudator? Eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Wahl. Olaf Janßen hatte in seiner Funktion als Sportdirektor Neuhaus schließlich einst als Trainer von Rot-Weiss Essen entlassen. „Wir haben uns später hingesetzt und ausgesprochen. Und ich habe ihm gestanden, dass ich mit dem Verzicht auf ihn einen riesigen Fehler gemacht habe damals“, räumte Janßen bei uns seinen Irrtum ein. Der Neuhaus-Nachfolger in der Rubrik „Chapeau des Jahres“ kam übrigens aus Heidenheim. Wir sagten: Chapeau 2020, Frank Schmidt!
Wer wie wir mit der Bundesliga der Neunziger sozialisiert wurde, der versteht sicher unsere Freude, als wir auf unserer bescheidenen Seite einige Größen unserer Vergangenheit begrüßen durften. Frank Pagelsdorf, der einst an der Seitenlinie von Hansa Rostock das Oberhaus aufmischte, gab zu Protokoll, warum er damals den inzwischen bei Holstein Kiel brillierenden Fin Bartels an die Ostsee holte. Mirko Votava – wir liebten ihn im Trikot von Werder Bremen für seinen stattlichen Schnauzbart – wusste aus seiner Zeit als Bremer U19-Coach zu berichten, wie er Dennis Diekmeier vom Offensiv- zum Defensivspieler umschulte. Damit hatte er keinen geringen Anteil daran, dass es mit Diekmeiers erstem Profi-Tor 287 Spiele dauerte.
Talentspäher Adolf Remy entdeckt Rohdiamanten
Die Rubrik bot aber über die letzten anderthalb Jahre auch einen spannenden Blick auf die Nachwuchsarbeit des deutschen Fußballs und ihre Protagonisten. Frank Wormuth, lange Trainer-Ausbilder und Junioren-Nationaltrainer des DFB, äußerte sich zu Heidenheims „Pressingmaschine“ Tim Kleindienst. Ebenfalls beim DFB-Nachwuchs hatte Frank Kramer Linksbahnsprinter Robin Hack kennen gelernt und festgestellt, dass dieser zum Typus des Talents gehört, das Druck braucht, um zu voller Stärke zu gelangen.
Daniel Siewert, in der vielfach gelobten Jugendarbeit des BVB zum Fußballlehrer gereift, erzählte, wie Paterson Chato und Janni Serra durch seine Hände gingen. Dirk Kunert erklärte aus Sicht der Wolfsburg-Jugend, warum Paul Seguin den Durchbruch bei den Niedersachsen nicht schaffte. Unser Autor stellte zudem unseren Lesern Adolf Remy vor. Das Diamantenauge hatte schon Leon Goretzka, Jerome Boateng oder Sami Khedira gefördert und auch Hannovers Linton Maina entdeckt.
So hoffen wir, dass unser Ziel, ein altes Konzept ein wenig informativer und tiefgründiger zu gestalten, erreicht wurde. Wir haben jedenfalls viel lernen können. Mit mehr als einem weinenden Auge ziehen wir daher jetzt nicht den Hut, sondern nehmen denselben.
Hier könnt Ihr nochmal alle Artikel aus der Rubrik Chapeau in der Übersicht ansehen.